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Rundbrief Januar 2017

Die Not der Werdenden

Margarethe Randow-Tesch

Unter sehr dramatischen äußeren Umständen schrieb die Holländerin Etty Hillesum im Zweiten Weltkrieg: »Ich glaube nicht mehr daran, dass wir an der äußeren Welt etwas verbessern können, solange wir uns nicht selbst im Innern gebessert haben. Das scheint mir die einzige Lehre dieses Krieges zu sein. Dass wir gelernt haben, das Übel nur in uns selbst zu suchen und nirgendwo anders« (Das denkende Herz, rororo S. 92).

Im Kurs wird betont, dass es nur eine Funktion gibt, die unserem Leben einen mehr als nur vorübergehenden und flüchtigen Sinn verleiht, und das ist die Vergebung, die Heilung unseres Geistes von Schuld. Vergebung hat zwei Aspekte, einen sichtbaren und einen nicht sichtbaren: Der sichtbare bezieht sich auf die Welt im Äußeren, unsere Beziehungen und Umstände, in denen wir uns bemühen, nicht anzugreifen und keine Besonderheit zu pflegen. Vergebung auf dieser Ebene kann viele Formen haben. Sie kann mild und nachgiebig oder auch streng und konsequent sein und sogar Trennung auf der äußeren Ebene beinhalten. Es gibt keine festen Regeln, weil alle Umstände verschieden sind. Aber immer ist sie von der Bereitwilligkeit getragen, uns und andere in unserer gemeinsamen Unzulänglichkeit und Begrenztheit anzunehmen, das Freundliche nicht zu übersehen und einen gütigen Blick zu bewahren. Eines aber ist sicher: Vergebung kann nie von einem Ich kommen. Ichbezogenheit in welcher Form auch immer ist das Gegenteil von Vergebung.

Der zweite Aspekt der Vergebung, der unter der Oberfläche liegt, ist der weitaus wichtigere und entscheidendere, denn hier geht es um das eigentliche Fundament, auf dem Vergebung oder Nichtvergebung gründet: die Beziehung unseres Geistes zu Gott, ohne die Vergebung unmöglich ist.

Streng genommen steht unser Geist nicht in Beziehung zu Gott, er ist eins mit Gott, doch in dieser Erkenntnis würde unsere Realität, wie wir sie kennen, verlöschen. Wir brauchen daher eine Zwischenstufe, die uns nicht überfordert: eine behutsame Erweiterung unseres auf ein kleines verletztes Ich eingeengten Horizontes. Das sind die glücklichen Träume der Vergebung, in denen die Heilung unseres Inneren von allen Fehlurteilen (dem »Übel«) zum Ziel wird. Das geschieht mithilfe der Beziehung, die wir zu unserer Erinnerung an Gott haben; es ist die heilende Beziehung des Geistes zu seinem – letztlich abstrakten – inneren Licht, im Kurs durch Jesus oder den Heiligen Geist symbolisiert und in konkrete Form gegossen. Diese Beziehung ist von größter Bedeutung. Lassen wir sie nicht zu, dann stehen wir allein vor unserer Angst und versuchen, durch die verschiedenen Angebote der Welt mit ihr fertig zu werden.

Wir mögen uns fragen, wie das alles mit unserem Menschsein, schwierigen Umständen und praktischen Problemen im Alltag zusammenhängt, und die Antwort lautet: Ganz direkt!

Letztlich beruhen alle menschlichen Probleme, angefangen von unserem negativen Selbstbild, über unsere komplizierten Beziehungen bis hin zu den großen kollektiven Fragen von Krieg, Hass, Ausbeutung und Elend auf hasserfülltem oder Angriffsdenken, im Kurs Ego genannt – ein Denken gegen Gott.

Das klingt unangenehm, weil es sofort Schuldgefühle und Angst auf den Plan ruft, und Schuldgefühle und Angst sorgen dafür, dass wir eine Sache nicht näher betrachten. Prompt setzen die narkotisierenden »Segnungen « der Projektion ein, und wir suchen nach den Verursachern des ganzen Jammers – draußen, in einer aktuellen Situation, in unserer individuellen Vergangenheit, in karmischen Verwicklungen, wo auch immer. Das ist der übliche Weg. Der bessere Weg ist theoretisch schnell durchschritten, aber in der Praxis ein Wachstumsprozess, der von beträchtlicher innerer Not begleitet ist.

»Wen gibt es, der nicht wünschte, frei von Schmerz zu sein? Vielleicht hat er noch nicht gelernt, wie Schuld gegen Unschuld einzutauschen ist, und begreift vielleicht noch nicht, dass ihm nur in diesem Tausch Freiheit von Schmerz zuteil werden kann. Doch brauchen jene, die beim Lernen versagt haben, Unterweisung und nicht Angriff. Die anzugreifen, die Unterweisung brauchen, heißt, dass du nicht von ihnen lernst« (T-14.V.5:5-8). Hasserfülltes Denken ist die Folge, wenn der Geist sich aus seiner Sicherheit wegbewegt. Das ist eine subtile, meist unbemerkte Entscheidung, keine Notwendigkeit. Diese Entscheidung kann in jedem Augenblick berichtigt werden, in dem wir sie mit großer Bereitwilligkeit, Ruhe und ohne Rechtfertigung in ihrer ganzen Unsinnigkeit anschauen. Dieses ehrliche Anschauen ist gemeint, wenn wir im Kurs gebeten werden, das Ego dem Heiligen Geist zu übergeben. Die Entscheidung für das Ego ist keine unwiderrufliche Katastrophe; sie sollte nicht Scham hervorrufen, sondern nur den tiefen Wunsch, neu zu wählen.

Der Kurs macht sehr deutlich, wie schmerzhaft blockierte Spiritualität die Existenz in der Welt beeinflusst, weil sie einen Ruf zum Kampf nach sich zieht. Die Liebe, die dennoch ungebrochen in unserem Geist bleibt, beurteilt uns jedoch nicht, sondern möchte sich zu uns erheben. Ein Satz bei Etty Hillesum über einen Priester, einen offensichtlich sehr entwickelten, Jesus ähnlichen Menschen drückt das aus: »Er war als Mittler zwischen Gott und den Menschen gestanden. Nichts vom Alltag hatte ihn berühren können. Und darum verstand er die Not aller Werdenden so gut« (Das denkende Herz, S. 111).

Wir sind keine spirituellen Giganten, sondern Werdende, die aus Alpträumen der Verwirrung und des Schmerzes innerlich zur Sanftmut der Wahrheit zurückgerufen werden. Wir gehen durch Wachstumsschmerzen, Widerstände, Irrtümer und Zweifel: die dunkle Nacht der Seele. Wie wichtig ist es dabei, die Macht unseres Geistes einzusetzen, um nach innen zu schauen, und gleichzeitig barmherzig mit unserer Not und der Not der anderen zu sein.

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